Finnland gilt international als Vorzeigeland für Krisenvorsorge und als ausgewiesener Experte in Fragen der Versorgungssicherheit. Dennoch besteht beim Thema digitale Versorgungssicherheit ein Entwicklungsrückstand. Warum ist das so?
„Digitale Versorgungssicherheit“ ist als umfassender, sehr weit gefasster Begriff noch relativ neu und erst seit Kurzem in dieser Breite Teil der öffentlichen Debatte und des allgemeinen Bewusstseins in Finnland.
Gleichwohl hat sich die Lage gewandelt: Digitale Versorgungssicherheit erweitert die klassische Versorgungssicherheit um eine neue Dimension, die der digitalen Umgebungen.
Mit den jüngsten geopolitischen Verschiebungen haben sich Umfeld, Bedrohungen und Anforderungen an die Versorgungssicherheit spürbar und in kurzer Zeit verändert. Der Krieg in der Ukraine hat den Handlungsdruck zusätzlich erhöht: Den Rückstand bei der digitalen Versorgungssicherheit gilt es nicht morgen, sondern heute aufzuholen.
Was müssen wir wissen und verändern, damit wir jetzt anders und besser handeln?
Von der materiellen Vorsorge hin zum Management der digitalen Versorgungssicherheit
In Finnland ist das Kriseninstrumentarium noch stark auf eine vor-digitale Welt ausgerichtet, eine Folge historisch gewachsener Strukturen. Sicherheit der Versorgung wird daher traditionell mit physischen Aspekten verbunden: haltbare Lebensmittel, Taschenlampen, Batterien, Medikamente oder Wasserkanister.
Die digitale Versorgungssicherheit lässt sich jedoch nicht nach denselben Maßstäben bemessen oder „einlagern“. Sie manifestiert sich in Menschen, in eingespielten Arbeitsweisen, in der aktiven Zusammenarbeit verschiedener Akteure und in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess.
Die digitale Versorgungssicherheit liegt in den Menschen selbst – in einem gemeinsamen Mindset, in etablierten Arbeitsweisen, in aktiver Zusammenarbeit sowie in der Bereitschaft zu kontinuierlicher Weiterentwicklung.
Im Gesamtkontext der Versorgungssicherheit basieren Produktion, Logistik und Verfügbarkeit physischer Güter auf langen digitalen Ketten. Diese betreffen eine Vielzahl von Akteuren. Vereinfacht gesagt: Damit Versorgungssicherheit auch in der physischen Welt funktioniert, braucht es digitale Systeme, die selbst unter außergewöhnlichen Bedingungen zuverlässig arbeiten, etwa damit Kartoffeln vom Feld ins Notlager und von dort in die Küchen der Menschen gelangen.
Finnlands digitale Versorgungssicherheit braucht ein Update und erhebliche Investitionen.
Die Weiterentwicklung der digitalen Versorgungssicherheit stellt uns als Gesellschaft vor große Aufgaben.
Erstens braucht es eine mutige, zukunftsgerichtete Haltung sowie eine systematische Zusammenarbeit, die auf echten gesellschaftlichen Mehrwert abzielt. Ein starkes Beispiel für diese neuen Impulse bot der Juni 2025: Auf dem SuomiAreena Democracy Festival diskutierten Vertreter:innen aus Wirtschaft und öffentlichem Sektor gemeinsam über digitale Versorgungssicherheit. Ich durfte die Bühne mit Janne Känkänen (CEO der National Emergency Supply Agency, NESA), Hanna Kivelä (CEO Fujitsu Finland und Vorsitzende von Digipooli), Anssi Kärkkäinen (Generaldirektor des Cybersecurity Centre bei Traficom) und Peter Sund (CEO des Finnish Information Security Cluster, FISC, unter dem Dach der Technologieindustrie Finnlands) teilen. Nochmals ein herzliches Dankeschön an alle Beteiligten für diesen wertvollen, mutigen und nach vorne gerichteten Austausch! Für alle, die nicht dabei sein konnten: Es gibt eine Aufzeichnung (FI).
Zweitens muss der bestehende Entwicklungsrückstand konsequent aufgeholt werden. Dazu liegen bereits Analysen etwa vom Verband der finnischen Technologieindustrie und vom Verkehrs- und Kommunikationsministerium vor.
Der Investitionsbedarf ist enorm: geschätzt zwischen ein und zwei Milliarden Euro. Auf der Prioritätenliste stehen insbesondere die Stärkung der Cybersicherheit, die Überwindung veralteter Technologien, das systematische Management von Cyberrisiken sowie der Abbau unnötig komplexer digitaler Infrastrukturen.
Zu den zentralen Entwicklungsfeldern der digitalen Versorgungssicherheit zählen insbesondere ein höheres Niveau an Cybersicherheit und ein systematisches Cyber-Risikomanagement, der Umgang mit veralteten Technologien sowie der Abbau unnötig komplexer digitaler Infrastrukturen.
Kritisches Denken und eine entwicklungsorientierte Haltung als Hebel für eine stärkere digitale Versorgungssicherheit in Finnland
Für die Weiterentwicklung der digitalen Versorgungssicherheit verfügen wir Finn:innen über eine besondere Stärke: die Fähigkeit und den Willen, kritisch, aber konstruktiv, zu denken. Wir streben kontinuierlich nach Verbesserungen, entwickeln Lösungen für morgen und stellen hohe Ansprüche an uns selbst.
Unsere Widerstandsfähigkeit in Krisen und Ausnahmesituationen beruht auf gemeinschaftlichem Handeln. Ein Allheilmittel, das den Entwicklungsrückstand bei der digitalen Versorgungssicherheit sofort beseitigen könnte, gibt es leider nicht.
Die Strukturen und Dienste unserer Gesellschaft basieren in normalen wie in außergewöhnlichen Lagen auf digitaler Infrastruktur. Um sie wirksam vor Störungen oder Angriffen zu schützen, brauchen wir ein tiefes Verständnis nicht nur der digitalen Abhängigkeiten, sondern auch ihrer Komplexität.
Je besser es gelingt, das tägliche Leben selbst in Notlagen stabil aufrechtzuerhalten, desto resilienter sind wir als Gesellschaft.
Führung in der digitalen Versorgungssicherheit als ein gemeinsames Ziel
Auch wenn wir in der Entwicklung der Versorgungssicherheit eine digitale Lücke festgestellt haben, bedeutet das nicht, dass die Notfallvorsorge der vergangenen Jahrzehnte unzureichend gewesen wäre. Vielmehr gilt es, ein sich ständig bewegendes Ziel zu treffen.
Die Welt um uns herum hat sich tiefgreifend und wohl dauerhaft verändert. Wir müssen auf die heutigen Bedrohungen reagieren und uns zugleich auf die von morgen vorbereiten.
Auf EU-Ebene hat Finnland in vielen Bereichen der Digitalisierung bereits eine Vorreiterrolle eingenommen. Jetzt ist es an der Zeit, auch auf europäischer und NATO-Ebene beim Aufbau digitaler Versorgungssicherheit und nachhaltiger Resilienz Maßstäbe zu setzen.
Kompetenz in digitaler Versorgungssicherheit könnte sich sogar zu einem künftigen Exportschlager entwickeln – und finnischen Unternehmen neue, bedeutende Geschäftsmöglichkeiten eröffnen.