Die Industrie wandelt sich durch Digitalisierung, zunehmende Automatisierung und KI-Lösungen. Wie können die Methoden der Nutzerforschung genutzt werden, um die Intelligente Industry international menschenzentrierter und effizienter zu gestalten? Suvi Leander, leitende Nutzerforscherin bei Gofore, teilt ihre Erfahrungen.
Letztes Jahr habe ich zwei internationale Nutzerstudien bei großen Industrieunternehmen geleitet. Das eine Unternehmen entwickelt schwere Arbeitsmaschinen, die in verschiedenen Teilen der Welt zum Einsatz kommen, das andere stellt Produkte her, die weltweit in Fahrzeugen verbaut werden.
Die Forschungsprojekte zielten darauf ab, die Interaktion zwischen Mensch und Maschine zu verstehen, die Herausforderungen moderner Systeme zu identifizieren und Usability-Probleme zu lösen. Die Ergebnisse flossen in die Entwicklung einer neuen Systemgeneration sowie in Innovations- und Modernisierungsprojekte ein. Die Nutzerstudien wurden durch Fabrikbesuche in fünf europäischen Ländern durchgeführt.
Zwei Seiten des Wandels: technologisch und menschenzentriert
Der Reifegrad von Digitalisierungs- und Automatisierungslösungen variiert stark in den Fertigungsbetrieben der Schwerindustrie. Oftmals liegt der Schwerpunkt der Modernisierungen auf der technischen Implementierung von Technologien.
Dabei wird häufig übersehen, dass eine Fabrik nicht nur aus Maschinen und Produktionslinien besteht – die Menschen, die dort arbeiten, spielen eine entscheidende Rolle. Neben den technischen Anforderungen verlangt die Einführung technologischer Neuerungen oft auch eine Veränderung der Einstellungen, Kompetenzen und Arbeitsweisen der Menschen. Grundlegende Veränderungen lassen sich nur selten erzwingen. Vielmehr müssen sie behutsam umgesetzt werden, damit die Auswirkungen des Wandels und die neuen Arbeitsweisen sich nahtlos in den Alltag der Menschen integrieren. Die Tatsache, dass wir Menschen von Natur aus lieber an alten Gewohnheiten festhalten, als neue zu übernehmen, ist dabei wenig hilfreich.
Um neue Technologien erfolgreich in der Industrie einzuführen, müssen wir:
- die Perspektive der Menschen und Nutzer:innen besser verstehen
- die Werksmitarbeiter:innen in die Planung der neuen Digitalisierungs- und Automatisierungsprojekte einbeziehen
- innovative Lösungen entwickeln, die nicht nur Effizienz steigern, sondern auch die Arbeitszufriedenheit erhöhen und ein zukunftsfähiges Arbeitsumfeld schaffen
- verstehen, wie sich die Rollen der Mitarbeitenden verändern und welche neuen Verantwortlichkeiten, Aufgaben und Schulungsbedürfnisse entstehen, z. B. durch die zunehmende Automatisierung
All dies kann durch herkömmliche Nutzerforschung in einem realen Arbeitskontext eingehend untersucht werden. Die herkömmliche Nutzerforschung, bei der Beobachtungen mit Befragungen verschiedener Rollen kombiniert werden, ist in diesen Situationen unschlagbar. In der Praxis bedeutet dies, dass wir im realen Anwendungskontext der Schwerindustrie die Fabriken besuchen. Dort können wir die Vor- und Nachteile der Arbeit mit eigenen Augen beobachten, mit den Endnutzer:innen sprechen, ihre Gedanken hören und durch Empathie ihre Erfahrungen verstehen.
Vertieftes Nutzerverständnis durch Empathie
In beiden Beispielen unserer Forschungsprojekte verfügten die Unternehmen über moderne Technologien und innovative Ideen zur Steigerung des Automatisierungsgrades. Was jedoch fehlte, war ein tiefes Verständnis für die Interaktion zwischen Mensch und Maschine und für die Art der Probleme, mit denen die Benutzer:innen während ihres Arbeitstages konfrontiert werden.
Mit dieser Forschung wollten die Unternehmen die Empathie unter den Mitarbeitenden der Fabriken, den Bediener:innen, Entwicklungsingenieur:innen und Wartungsspezialist:innen erhöhen. Neben dem Erlangen von Nutzerverständnis bestand eines der Ziele darin, den Mitarbeitenden das Gefühl zu geben, gehört zu werden.
Bei unseren Werksbesuchen haben die Bediener:innen ihre Freude und Überraschung darüber zum Ausdruck gebracht, dass jemand ihre Gedanken und Verbesserungsvorschläge hören wollte.
Einige Wartungstechniker:innen haben sogar Listen mit Problempunkten und Wünschen vorgelegt und uns mitgeteilt, dass sie auf eine solche Gelegenheit jahrelang gewartet hätten. Aus der Sicht der Nutzerforscher sind solche Reaktionen äußerst wünschenswert, da die Erfahrung, gehört zu werden, ein wichtiges Nebenprodukt vieler Nutzerstudien darstellt.
Lösungen für Probleme, Ideen für die zukünftige Entwicklung
Die Ergebnisse beider Forschungsprojekte haben konkrete Lösungen für bestehende Probleme geliefert und größere Entwicklungsprojekte für zukünftige Roadmaps inspiriert.
Die aktive Einbindung der Mitarbeitenden in den Innovationsprozess trug dazu bei, die Akzeptanz für die neuen Technologien zu erhöhen und das Vertrauen in die Neuerungen zu stärken.
Außer den technischen Aspekten und Problemen der Benutzeroberfläche erörterten wir auch wichtige Fragen im Zusammenhang mit der Arbeitskultur, wie etwa die Einstellungen zu Veränderungen von Arbeitsrollen, kulturelle Perspektiven in verschiedenen Ländern und Erkenntnisse in Bezug auf die Kommunikation. Die kulturellen Unterschiede zwischen den Ländern haben nicht nur unterschiedliche Probleme zur Folge, sondern führen auch zu unterschiedlichen Lösungsvorschlägen. Ein tiefes Nutzer:innenverständnis ist besonders wichtig, um bessere Lösungen entwickeln zu können.
Was können wir aus den Veränderungen lernen, die die Digitalisierung in der Schwerindustrie mit sich bringt? Es ist wichtig, die Endnutzer:innen der Technologie aktiv in den Wandel einzubeziehen und ihnen wirklich zuzuhören, da sie die Expert:innen für die Verbesserung ihrer eigenen Arbeit sind.
Möchtest Du mehr dazu erfahren?
Möchtest Du mehr darüber erfahren, wie Nutzerforschung Dein Unternehmen voranbringen kann? Dann kontaktiere uns – wir helfen gerne dabei, Nutzerperspektiven in Deine Digitalisierungsstrategie zu integrieren.
So sind wir vorgegangen: Durchführung der Forschung
Wir haben in jeder Produktionsstätte mehrere Tage verbracht, um so viele Rollen wie möglich zu befragen.
- Erste Phase: Befragung interner Stakeholder, um den Hintergrund, die Begriffe, die Prozesse und die Arbeitsabläufe der verschiedenen Rollen zu verstehen und um Interview-Skripts für die Werksbesuche auszuarbeiten.
- Werksbesuche: Beobachtung und Contextual Inquiry in Produktionsanlagen, um die Auswirkungen von Arbeitsumgebung, Ergonomie, Arbeitstempo, sich wiederholenden Aufgaben, Einsatz von Maschinen, Kommunikation, manuellen Aufgaben und Automatisierungsgrad auf die tägliche Arbeit zu verstehen
- Tiefeninterviews: Durchführung von Einzel- und Gruppeninterviews mit den identifizierten Rollen wie Bediener:innen sowie Wartungs- und Entwicklungsingenieur:innen.
- Qualitative Analyse: Inhaltsanalyse der Beobachtungsnotizen und Befragungsdaten
- Umfassender Bericht: Beschreibung der Nutzererkenntnisse einschließlich ausgewählter Artefakte wie Nutzerprofile oder User Personas, Stakeholder-Karten, Empathiekarten, Konzeptmodelle und Zukunftsprognosen.