Wo steht Europa bei der Elektromobilität im Vergleich zu Norwegen?
Es gibt eine Zukunft für Elektrofahrzeuge. In Norwegen gehören kraftstoffbetriebene Autos fast schon der Vergangenheit an – die Meistverkauften sind bereits vollständig elektronisch und die Infrastruktur der Ladesäulen ist in gutem Zustand. Ich hatte ein Telefonat mit meiner Freundin und Kollegin Nina Pavón, welche in Trondheim in Norwegen lebt und als Investor Relations Lead bei Gofore arbeitet. Norwegen ist dem Rest von Europa auf dem Markt für Elektrofahrzeuge („EV“) momentan 5-10 Jahre voraus. Aber was bedeutet das genau?
Nina, die selbst einen Tesla fährt, sagt es war einfach, sich in Norwegen für ein Elektroauto zu entscheiden, da die Vorteile einfach zu groß sind. Das heißt beispielsweise keine Straßenbenutzungsgebühren oder KFZ-Steuer, dafür aber preiswerter Kraftstoff. Eine der größten Sorgen für Neulinge ist offensichtlich das Laden – wie lange dauert es, wo stehen die Ladesäulen und wie funktionieren sie? In Ninas Fall wurde das Laden perfekt in den normalen Alltag integriert. Das bedeutet, dass ihr Auto lädt, während ihr Sohn beim Fußballtraining ist, oder während sie einkauft. Ladesäulen sind überall, und es gibt viele von ihnen. Beispielsweise existieren ganze Plätze mit 15-20 Schnellladesäulen oder Tesla Superchargern, wo man sein Auto immer und effizient innerhalb einer halben Stunde aufladen kann. Viele Leute laden ihr Fahrzeug auch einfach zuhause, wobei der Ladevorgang dann über Nacht stattfindet. Die Angst davor, dass die Strecken zwischen den Ladesäulen zu lang sind (auf norwegisch „Rekkeviddeangst“) und andere Sorgen wurde in Norwegen bereits aus dem Weg geräumt (und dort sind die Winter kälter als in Zentraleuropa). Elektrofahrzeuge sind hier die erste Wahl.
Auch die Statistik spricht für sich. Mehr als 80% von allen verkauften Fahrzeugen sind momentan entweder batteriebetriebene Elektrofahrzeuge („BEV“), oder Plug-in-Hybriden („PHEV“). Aber was ist mit dem Rest von Europa? Hier sind fünf Dinge, die man wissen sollte:
1. Der Markt ist noch nicht ausgereift
Was den Markt für Elektrofahrzeuge in Europa angeht, so übersteigt der Hype die Realität. So ist es zumindest in meinem Umfeld. Ende 2020 belief sich der Anteil von Elektrofahrzeugen (Hybriden und voll-elektrisch) auf 1,5% des Gesamtfahrzeugbestands. Natürlich ist es bei solchen Zahlen für alle Parteien schwer, wirklichen Profit zu machen. Das ist eine Huhn-und-Ei-Problem, wobei es beispielsweise erst eine flächendeckendere Infrastruktur von Ladesäulen geben müsste, um mehr Leute davon überzeugen zu können, auf Elektrofahrzeuge umzusteigen. Ein weiteres Problem liegt bei der verfälschten Wahrnehmung der Preise. Die meisten Elektrofahrzeuge scheinen ökonomisch außer Reichweite für die breite Masse, obwohl die Gesamtkosten unter denen eines traditionellen Auto liegen.
Dennoch ist es entscheidend, auch in dieser frühen Phase aktiv auf dem Markt zu sein. Durch frühzeitiges Engagement („Early Movers“), besonders in Verbindung mit Kundenerfahrung und Markenausrichtung, ergeben sich bessere Möglichkeiten höhere Marktanteile für sich zu beanspruchen. Wenn man sich das Modell des Marktlebenszyklus ansieht, so wird schnell klar, dass wir uns noch immer in der Entwicklungsphase befinden, aber kurz davor sind, in die Wachstumsphase einzutreten. Große Konzerne der Automobilindustrie sind aufgewacht und Volkswagen hat beispielsweise seine Pläne für die Elektromobilität mit Investitionen in Höhe von 50 Billionen Euro angekündigt.
2. Das Wachstum ist stark und wird noch stärker
Obwohl der Verbreitungsgrad der Elektrofahrzeuge noch relativ niedrig ist und eher als Indikator fungiert, gibt es dennoch außergewöhnlich robustes Wachstum an zahlreichen Fronten. In der Branche der Elektromobilität ist der grundlegende Baustein natürlich die Anzahl der verkauften Fahrzeuge. In Europa hat sich der Verkauf um 137% im Vergleich zum Vorjahr erhöht, lag aber dennoch „nur“ bei 1,4 Millionen Euro. Was allerdings interessant ist, ist dass sich die Anzahl der elektrisch betriebenen Fahrzeuge in Deutschland im Vergleich zum Februar letzten Jahres verdreifacht hat. Was die Autos anbelangt, so ist es offensichtlich dass es viele neue Modelle auf dem Markt gibt, die den Kunden auf verschiedene Weisen ansprechen. Außerdem entwickeln die Technologien sich stetig weiter, beispielsweise erhöhen sich die Kapazitäten der Batterien fortlaufend.
Ein weiteres wichtiges Puzzleteil ist die Infrastruktur der öffentlichen Ladesäulen, welche in den letzten Jahren in Europa um circa 35% jährlich gewachsen ist. Die Wachstumsrate der Lademöglichkeiten im eigenen Haushalt bewegt sich wahrscheinlich im selben Rahmen. Dennoch ist dieses Wachstum nicht schnell genug und es ist anzunehmen, dass sich die Anzahl der Ladesäulen rapide erhöhen wird. Was ebenfalls nicht vergessen werden darf ist dass Qualität und Schnelligkeit der Ladungen durch die konkurrierenden Firmen stetig verbessert werden. Zumindest in der Theorie. Die Wahrheit ist, dass es noch immer zu viele langsame 22kW Ladesäulen gibt.
Die drei Punkte, die die Verbreitung von Elektrofahrzeugen hemmen, sind der Anschaffungspreis, die Reichweite und die Infrastruktur der Lademöglichkeiten. Das Wachstum sorgt allerdings dafür, dass diese Blockaden immer schneller heruntergebrochen werden.
3. Das Nutzererlebnis muss weiter ausgearbeitet werden
Wie in vielen anderen Feldern gibt es auch bei der Elektromobilität viel Variation bei den Nutzererlebnissen. Obwohl die Vorreiter wie Tesla erstklassige Nutzererlebnisse in ihren eigenen Ladenetzwerken kreieren können, gibt es dennoch die Chance, dass der Nutzer an eine nicht funktionierende Ladesäule gerät, oder dass die Ladezeit nicht den Ansprüchen entspricht. Es gibt außerdem große Kompatibilitätsprobleme zwischen verschiedenen Standards – beispielsweise braucht der Nutzer verschiedene Kundenkarten für die unterschiedlichen Anbieter und auch kontaktlose Kartenzahlung ist nicht immer und überall möglich. Meiner Meinung nach liegt es daran, dass viele Produkte noch heranreifen und viele End-to-End-Lösungen nicht mit dem Endnutzer im Hinterkopf entwickelt wurden, beziehungsweise noch gänzlich fehlen. Tesla ist hier vielleicht die Ausnahme, perfekt sind jedoch auch sie nicht. Was wir allerdings sehen ist, dass viele andere Firmen, die in engem Austausch mit ihren Kunden stehen, sich rasant weiterentwickeln.
Ein weiterer interessanter Aspekt des Nutzererlebnisses ist außerdem, dass es auch andersherum funktioniert. Was ich damit meine ist, dass auch andere Unternehmen bestimmte Services für ihre Kunden bereitstellen müssen, um ein ganzheitliches Nutzererlebnis zu schaffen. Kunden mit Elektrofahrzeugen werden beispielsweise den Supermarkt oder das Restaurant bevorzugen, das ihnen eine Lademöglichkeit bietet. Mehr Informationen dazu gibt es einem Artikel, in dem wir über die User Journeys in Bezug auf Ladestationen gesprochen haben.
4. Es gibt immer noch viele Missverständnisse und Vorurteile
Eine aktuelle Studie verriet, dass mehr als die Hälfte der Teilnehmer in Niedersachsen nicht dazu bereit wären, als nächstes ein elektrisches Auto zu kaufen. 57% zweifelten beispielsweise an der Umweltfreundlichkeit, was durchaus als ein hoher Anteil angesehen werden kann. Dabei steht es außer Frage, dass Elektrofahrzeuge umweltfreundlicher sind, als andere Antriebsarten. Das haben mehrere Studien bereits belegt.
Ein weiterer Grund war die typische Angst vor einer zu geringen Reichweite. Es ist zwar wahr, dass nur wenige Elektrofahrzeuge so weit fahren können wie Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor, dieser Vergleich setzt jedoch am falschen Punkt an. Ein besserer Ansatz wäre die Frage, wie weit wir eigentlich fahren müssen. Europäische Statistiken zeigen, dass der tägliche Weg, der im Auto zurückgelegt wird, weniger als 40 Kilometer (vor Covid) beträgt und dass wirklich lange Strecken die Ausnahme bilden. Elektromobile sind durchaus in der Lage die alltäglichen Anforderungen zu erfüllen, da die Ladevorgänge in den meisten Fällen zuhause oder beispielsweise beim Einkaufen stattfinden. Weiterhin wird oft angenommen, dass der Akku stetig an Leistung verliert und wie bei Mobiltelefonen nach zwei Jahren ausgetauscht werden muss. Auch in den Nachrichten bekommen die Artikel mit den negativen Überschriften mehr Klicks. Wir dürfen nicht aufhören über diese Themen zu sprechen, den Markt zu verbessern und weiterzuentwickeln – und nicht zuletzt uns.
5. Neue Businessmodelle tun sich auf
Für mich als Experte, der die digitale Transformation praktisch lebt und atmet, ist besonders interessant, welche neuen Businessmodelle auf dem Markt der Elektromobilität sich durch die Softwareentwicklung ergeben. Das bezieht sich beispielsweise auch auf die Rechnungsstellung für Elektrizität, bei der es verschiedene Variationen in Form von zeitbasierten-, kWh-basierten-, hybrid- oder sogar Lockangeboten gibt, bei welchen die Energie sogar kostenlos sein, oder mit den monatlichen Raten für das Auto verrechnet werden kann. Wir wissen nicht, welches Preismodell gewinnen wird, oder welche parallel existieren werden, je nach Vorlieben und Bedürfnissen der Nutzer. Noch müssen die Businessmodelle getestet werden.
Die Fahrzeuge selbst bekommen immer neue Fähigkeiten, die die Businessmodelle verändern. Funktionsbasierte Preismodelle sind beispielsweise sehr interessant. Das heißt, dass der Kunde für spezielle Funktionen wie Geschwindigkeit oder autonomes Fahren zahlen kann. Audi ist bereits Vorreiter mit ihren On-Demand Angeboten. Es gibt noch immer Raum für neue Innovationen und diese werden vor allem durch bessere Softwarelösungen erreicht werden können.
Wo stehen wir?
Wie Ninas Erfahrungen und auch die anderen Erkenntnisse zeigen, ist Norwegen die führende Kraft auf dem Markt der Elektromobilität. Viele Dinge, mit denen wir vor allem in Zentraleuropa noch Probleme haben, wurden dort bereits gelöst. Der Vorteil ist, dass wir davon lernen können, wie der Markt und das Verhalten der Menschen sich entwickeln wird. Elektromobilität wird zur neuen Normalität werden. Die Reise hat erst begonnen, aber wir sind auf dem richtigen Weg! Was sind Deine Gedanken zu dem Thema? Hast Du bereits ein elektrisches Auto ausprobiert?
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