Wie würde es sich anfühlen, ein Landwirt zu sein, der morgens nicht aufs Feld muss, sondern mit einer Tasse Kaffee dasitzt und zusieht, wie seine Maschinen von selbst zur Arbeit eilen? In Zukunft könnte dies möglich sein, da immer mehr Maschinenhersteller auf autonome Geräte hinarbeiten. Es ist unwahrscheinlich, dass alle Maschinen völlig autonom sein werden, zumindest nicht in naher Zukunft, aber fast alle Maschinen und Geräte werden die Tätigkeiten ihrer Benutzer:innen durch intelligente Assistenzfunktionen erleichtern. Ein gutes Beispiel für ein Assistenzsystem ist die Auslegersteuerung einer Forstmaschine, bei der für die Bedienung früher mehrere Bewegungen gleichzeitig ausgeführt werden mussten, während man sich heute nur noch auf die Steuerung der Auslegerspitze konzentriert.
Die zunehmende Intelligenz von Maschinen bedeutet in der Praxis, dass die Steuerungssysteme immer komplexer werden. Mit der Einführung immer neuer Modelle nimmt auch das Softwareaufgebot in den Maschinen exponentiell zu. Dies wiederum stellt Gerätehersteller vor Probleme, da diese Komplexität die Vorlaufzeit in der Produktentwicklung und die Zahl der während des Betriebs von Maschinen entdeckten Fehlfunktionen erhöht.
Eine der größten Herausforderungen in Bezug auf die Qualität ist die zunehmende Anzahl von Merkmalen, die für ein Gerät zur Wahl stehen, dass ein/e Autokäufer:in also z. B. einen bestimmten Motortypen, intelligente Spiegel, einen adaptiven Tempomat, Parksensoren usw. wählen kann. Jede Wahlmöglichkeit wirkt sich auf das endgültige Produktdesign und die Software aus, und letztendlich ergeben sich insbesondere bei komplexen Maschinen mehrere Millionen Produktkombinationen. Aus Kostengründen ist es unmöglich, sie alle anhand eines physischen Prototyps durchzutesten.
Aber was wäre, wenn Du als Gerätehersteller die Vorlaufzeit bei der Produktentwicklung halbieren könntest? Was wäre, wenn Du die Anzahl physischer Prototypen erheblich reduzieren und so 30–50 % der Kosten einsparen könntest? Dies ist möglich, wenn das Potenzial der Digitalisierung nicht nur in Bezug auf das Gerät voll ausgeschöpft wird, sondern diese auch während seiner Planung und seines Lebenszyklus zum Einsatz kommt.
Was bitte ist DPL?
Der digitalisierte Produktlebenszyklus (Digitalised Product Lifecycle, DPL) ist im Grunde die Reise von der Produktidee bis zur Produktabschaltung. Das Kernstück des DPL ist der digitale Zwilling des Produkts, der in einer 3D-Visualisierung nicht nur wie das echte Gerät aussieht, sondern auch genauso funktioniert. Er enthält die physischen Vorgaben des Geräts, wie Masse, Festigkeit und Elastizität der Teile, sowie die für den Betrieb des Geräts erforderliche Software und Daten.
Konzeptphase:
Der Entwurf eines digitalen Zwillings beginnt mit einem virtuellen Konzept, bei dem mithilfe von Simulationswerkzeugen geprüft wird, ob die Leistung, die Umweltbelastung oder das Geschäftsmodell des Produkts den Anforderungen entsprechen. Die Modellierung erfolgt durch den Aufbau des Konzepts aus vorhandenen Produktkomponenten und das Hinzufügen/Modellieren neuer Komponenten am Simulationsmodell. Dank eines solchen virtuellen Konzepts wird sichergestellt, dass die Produktentwicklung zielführend ist.
F&E:
In der Produktentwicklungsphase wird ein Prototyp des digitalen Zwillings gebaut. Daher ist es zweckmäßig, in dieser Phase das Modell entweder als „digitalen Prototypen“ oder „virtuellen Prototypen“ zu bezeichnen. Die Digitalisierung der Produktentwicklungsphase bietet massive Vorteile, wenn es gelingt, Änderungen der Designprinzipien in großem Maßstab umzusetzen. Die wichtigsten Vorteile liegen in einer Verkürzung der Markteinführungszeit (time to market), einer Verringerung der Anzahl physischer Prototypen (Kostensenkung) und einer Verbesserung der Produktqualität.
Doch welche Änderungen werden eigentlich am traditionellen Modell vorgenommen? Die Produktentwicklung mithilfe eines virtuellen Prototypen stützt sich auf eine modellbasierte Planung. Das bedeutet, dass der Entwurf des Produkts sowie die Planung der Mechanik, Hydraulik, Elektronik und Software alle anhand desselben virtuellen Prototyps erfolgen. Dieser Prototyp wird auch zum Testen der Funktionsfähigkeit verwendet.
Herstellung:
Ein digitaler Zwilling entsteht, wenn eine digitale „Kopie“ eines in einer Produktionsanlage hergestellten realen Produkts erstellt wird. Für die Schaffung eines digitalen Zwillings müssen die Informationssysteme des Herstellers in der Lage sein, ein 3D-Modell des Produkts, ein physisches Modell sowie die Software- und Konfigurationsdaten des Steuerungssystems abzubilden.
Auch in der Produktion kann ein digitaler Zwilling bereits vor der Schaffung des physischen Geräts erstellt werden und dem Unternehmen Vorteile bringen. So kann die Produktion im Voraus digital simuliert werden. Einer der Vorteile dieser Methode ist die Sicherstellung der Qualität des Produktionsdurchsatzes, da die Funktionalität der Gerätekonfiguration durch Simulation überprüft werden kann.
Vorteile des digitalen Zwillings in der Praxis
Der digitale Zwilling bietet auch während der Produktnutzung viele neue Geschäftsmöglichkeiten. Ein digitales Abbild des Produkts im Backend-System fungiert gleichzeitig als nahtloses IoT-System, das beispielsweise für Datenanalysezwecke genutzt werden kann.
Eine Anwendungszweck für den digitalen Zwilling ist beim Übergang eines traditionellen Produktgeschäfts in ein Dienstleistungsgeschäft, das gehobene Wartungs- oder Pay-per-Use-Dienste bietet. Wenn der finanzielle Nutzen eines Geräts oder einer Hardware für den/die Käufer:in von der Effizienz abhängt, wie im Fall von Forstmaschinen, kann auch eine simulatorgestützte Schulung erhebliche Vorteile bringen.
Fokus auf Änderungsmanagement
Alle für den digitalen Produktlebenszyklus nötigen Technologien und Kompetenzen sind vorhanden, dennoch ist und bleibt es eine Herausforderung, diesen Wandel in traditionellen Industrieunternehmen zu vollziehen. Der Wandel ist nicht nur technologischer Natur, sondern umfasst auch Organisationsmodelle, völlig neue Berufsbilder und die Änderung oder Zusammenlegung verschiedener Entwicklungs- und Fertigungsprozesse. Die erfolgreiche Umsetzung all dieser Maßnahmen erfordert eine klare Vision und einen klaren Plan, denen sich das Unternehmen bis hin zur obersten Führungsebene verpflichten muss. Der Wandel selbst kann in geordneter Weise umgesetzt werden, indem man in einer ausgewählten Phase des Lebenszyklus beginnt und sich dann Schritt für Schritt an ein neues Geschäftsmodell annähert.